Anting, die deutsche Geisterstadt mitten in China
Der deutsche Stadtplaner Albert Speer hat einen ganzen Vorort von Shanghai entworfen: Anting sollte Formen des nachhaltigen Wohnens nach China bringen. Doch noch steht die Stadt bedrückend leer. Von Johnny Erling, Anting
Malerische Alleen führen sternförmig zum Volksplatz von Anting, einem Vorort von Shanghai. Die Menschen in der Umgebung nennen Anting eine "deutsche Stadt", mitten in China. Die Straßen bedeckt Kopfsteinpflaster, die Fassaden der mehrstöckigen Häuser sind in freundlichen Farben getönt, die Ladenfronten großzügig ausgelegt. Ein Café hat seine Stühle nach draußen vor den Brunnen gestellt. Die Dichterfürsten Goethe und Schiller, beide im Gehrock, stehen als Bronzefiguren darin. Sie sind ein Geschenk der Partnerstadt Weimar.
Doch der Platz ist bedrückend leer. Nur eine alte Frau sitzt am Brunnen, wärmt sich in der Sonne. Ihre Kinder arbeiteten in der 30 Kilometer entfernten Stadt, sagt sie. Sie kämen erst am Abend. Sie antwortet nicht direkt auf die Frage, ob sie sich in Anting wohlfühlt. Sie kenne keine Nachbarn. Sie wisse auch nicht, was sie zum Abendessen kochen soll. Der Weg zum nächsten Markt sei zu weit zum Laufen. Der Brunnen hinter ihr ist ausgetrocknet. Offene Rohre liegen verrostet am Boden.
"Das Wassersystem ist hinüber", sagt Albert Speer, Gründervater der Anting New Town, der Neustadt von Anting, einst ein gefeiertes deutsch-chinesisches Musterprojekt. Er klingt verärgert. Der Frankfurter Stadtplaner, der im kommenden Jahr 80 Jahre alt wird, hat auch Grund dazu. Mehr als 13 Jahre nachdem sein Büro Albert Speer & Partner (AS&P) den Shanghaier Wettbewerb zum Bau von Anting gewann und acht Jahre nach Einzug der ersten Bewohner, wirken viele Einrichtungen Antings heruntergekommen, noch bevor sie benutzt wurden. Nur das Café ist geöffnet, alle Geschäfte nebenan stehen leer, ihre Schaufenster sind stumpf und verstaubt.
Die meisten Wohnungen wurden zwar verkauft, sind aber nicht bezogen. Die elf fertiggestellten Wohnblöcke bieten Platz für 25.000 Menschen. Aber nur 7000 leben in Anting, so lautet die offizielle Auskunft einer Verwalterin. Selbst diese geringe Zahl scheint geschönt zu sein. Surreal wirkt der überdimensionierte Marktplatz im Stadtkern. Ungenutzte Großbauten, darunter ein Hotel, ein Büro- und Einkaufszentrum umrunden ihn. Nur an der Kirche klebt die Notiz, dass Sonntag Gottesdienst ist. "Alles ist hier vorhanden", sagt Speer und fügt hinzu, "zurzeit braucht es nur keiner."
Begrünte, großzügig gestaltete Wohnhöfe hinter den Straßen lassen erahnen, wie es in Anting aussehen könnte. Durch das Städtchen zieht sich ein von Weidenbäumen umsäumter Kanal. Ein kleiner See trennt den Stadtteil vom gerade bezugsfertigen Block 11, dessen einzelne Wohnhäuser von Grachten umsäumt werden. So malerisch diese Szenen auch wirken – überall fehlen die Menschen. Johannes Dell, Partner und Chef der China-Niederlassung von AS&P, die in der City ein neues Großraumbüro bezogen hat, bringt den Widerspruch auf den Punkt: "Anting ist Chinas schönste Geisterstadt."
"Eigentlich alles richtig gemacht"
Speer und seine Mitarbeiter können aber inzwischen über ihr vermeintlich gescheitertes, erstes deutsch-chinesische Modell nachhaltiger Stadtplanung sogar schon wieder lachen. Denn das Projekt fasst wieder Tritt. "Eigentlich haben die Deutschen mit ihrer besonderen Wohnstadt alles richtig gemacht. Sie kamen jedoch zu früh. Jetzt erst holen der Markt und Chinas Politik sie ein", kommentiert ein Immobilienmakler die anziehende Nachfrage nach Wohnungen in Anting. Umweltfreundliche, energiesparende Stadtplanung liege im Trend.
Die von der Partei herausgegebene Börsenzeitung "Zhengjuan Shibao" enthüllte gerade, dass auf dem Wirtschaftsplenum des Zentralkomitees vom 9. bis zum 12. November Pekings Politik die Suche nach "neuen Formen der Urbanisierung" (Verstädterung) in den Mittelpunkt ihres Reformkurses stellen wolle. Ihr "altes Modell" sei unhaltbar, da es Stadt und Land zugleich zerstöre. Stadtentwicklung müsse "smart" sein und die rasende Verstädterung sozialverträglich auffangen können.
Das sieht auch Speer so. Er hat sich mit solchen Postulaten vom übermächtigen Schatten seines Vaters, des Rüstungsministers und Architekten von Adolf Hitlers Monumentalbauten, befreit. Stadtplanung setze keine Denkmäler, sondern betrachte Städte als komplexe und lebende Organismen, lautet sein Credo. Der "Welt am Sonntag" sagte er in Anting: "Das Thema der Nachhaltigkeit von Bauen und Planen hat mich seit Beginn meiner Tätigkeit vor inzwischen fast 50 Jahren begleitet. Schon als der Begriff noch nicht einmal erfunden war." Dann stapft Speer weiter durch Anting – er weiß nicht, zum wievielten Mal. Es ist sein schwierigstes Unternehmen unter den rund 250 Projekten, die AS&P in den 17 Jahren seines China-Engagements angegangen ist und umgesetzt hat.
Neue Töne in der Stadtplanung
Zur gleichen Zeit redet der neue Shanghaier Oberbürgermeister Yang Xiong vor dem jährlich von seiner Stadtregierung eingeladenen Internationalen Beraterkomitee (IBLAC). Er sagt den ausländischen Konzernchefs, dass er für seine Metropole "weiche Standortfaktoren" entwickeln wolle, um für die 24 Millionen Bewohner die Lebens- und Umweltqualität zu erhöhen. Das sind neue Töne. Sonst war Shanghai, die Stadt der Superlative, immer nur darauf aus, Rekorde in der Stadtentwicklung aufzustellen.
Speer hat solche Vorschläge auch schon auf einer IBLAC-Konferenz gemacht. Das war 1996 unter dem damaligen Bürgermeister Xu Kuangdi. Der Frankfurter riet damals, den Umgang mit den Folgen von Bevölkerungswachstum und Flächenverbrauch zum Bestandteil nachhaltiger Stadtplanung zu machen. Shanghai zählte damals 13 Millionen Menschen, heute sind es knapp 25 Millionen. Drei Jahre später gewann Speer mit einem Masterplan die Ausschreibung der Stadtregierung für eine neue Automobilstadt rund um die VW-Werke im Vorort Jiading. Dazu gehörte eine für 50.000 Einwohner gedachte Schlaf- und Wohnstadt. Mit vier weiteren deutschen Architekturbüros hob er 2003 den Bau der Neustadt Anting aus der Taufe.
Späte Genugtuung
Zehn Jahre danach werben Plakate für den inzwischen bezugsfertigen Block 11 in der Anting New Town. Die neuen Gebäude heißen "Dezhao Haosi", eine Lautumschreibung von "Dessau-Haus". Das Verkaufsbüro gibt Auskunft: Von 381 der angebotenen, bis zu 240 Quadratmeter großen Apartments in den 20 "Dessau-Häusern" seien bis auf 68 Wohnungen alle verkauft. Block 12 ist im Bau. Die Preise pro Quadratmeter kletterten auf 14.000 Yuan (1700 Euro), 2000 Yuan mehr als 2012. Das sei aber nur ein Drittel des Preises, den Wohnungen in Shanghais Innenstadt kosteten.
Die Käufer seien 35 bis 50 Jahre alt. Viele hätten im Ausland studiert und wollten mit ihren Kindern in europäischem und vor allem in "grünem" Umfeld wohnen. Neu sei, dass Shanghaier Käufer nach einer Zweitwohnung für das Wochenende suchten, angelockt von großzügigen Parks und einem großen Golfplatz. Die steigende Nachfrage ist aber vor allem der Anbindung an das innerstädtische U-Bahn-Netz zu verdanken. Seit Oktober hält die neue Stadtmetro Linie 11 in Anting. "Das war überfällig", sagt Speer. Auch der Ausbau der öffentlichen Infrastruktur werde nun angegangen. Ab September 2015 werde es eine allgemeine Schule hier geben, die bis zur 9. Klasse gehe.
Das alles ist eine späte Genugtuung für Speer und die Bestätigung für das Projekt. Es begann, als der damalige Oberbürgermeister Xu Kuangdi 1999 einen Ring von "Satellitenstädten" um die City bauen lassen wollte. Ihn sorgte, dass Metropolen wie Shanghai im Ansturm der Urbanisierung wie Pfannkuchen in die Fläche ausfransen, wenn Landflucht und Arbeitssuche Hunderte Millionen Bauern in die Städte treiben. Seine Prognose, wonach 2014 von Chinas 1,4 Milliarden Menschen die Hälfte in Städten wohnen würde, blieb hinter der Realität zurück. Tatsächlich lebten Ende 2012 schon 720 Millionen Menschen in 657 chinesischen Städten. In 125 Städten darunter sind es heute jeweils mehr als eine Million Menschen.
Unter Bürgermeister Xu plante Shanghai den Bau von neun Satellitenstädten, die von spanischen, holländischen, italienischen, französischen, deutschen und US-Architekten im nationalen Stil ihrer Länder erbaut werden sollten. Als Xu 2001 nach Peking berufen wurde, verlor das "Neun-Perlen-Konzept" den politischen Rückhalt in Shanghai. Nur noch die britische Thames-Town in Songjiang mit ihren Tudor-Häusern wurde weitergebaut und dient heute als Kulisse für Hochzeitsfotos. Anting wurde als ökologische Stadtentwicklung weiterverfolgt, doch es hatte keine Priorität mehr. Der versprochene Anschluss an Shanghais Verkehrsnetz und an die öffentliche Infrastruktur verzögerte sich immer wieder.
Kleinigkeiten machten großen Ärger
Das deutsch-chinesische Vorzeigeprojekt drohte zu scheitern. Es gab Streit mit den Auftraggebern über mangelnde Zahlungsmoral. Chinesische Baufirmen hielten sich nicht an die von den deutschen Stadtplanern und Architekten vorgegebenen Baustandards, an Umweltauflagen, an Mindestanforderungen für die Müllentsorgung oder Wärmedämmung. Tiefgaragen verwandelten sich in Betonbunker. Speer wollte die Abwärme der riesigen VW-Werke zur Energieversorgung Antings nutzen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Ohne politische Intervention scheiterten seine Direktverhandlungen mit dem chinesischen Mehrheitspartner von VW.
Oft bereiteten Kleinigkeiten größten Ärger. Neue Einrichtungsideen wie der Einbau von Kippverschlüssen für Balkontüren und Fenster gefährdeten den Ruf der Deutschen, nur Spitzenqualität abzuliefern: Fenster und Türen waren den Anwohnern nach mehrmaligem Öffnen entgegengefallen. Schuld waren minderwertige Schrauben und Halterungen, die chinesische Firmen einsetzten, um Geld zu sparen. Auf der Anwohner-Webseite aber standen lange Zeit erboste Aufrufe: "Nieder mit den Deutschen und ihren Drehkipp-Fenstern." Ein kleines Scharnier "das nichts taugt", so ärgerte sich Johannes Dell, "kann auch ein großartiges Projekt kippen".
1996 erstmals in China
Speer, dessen Frankfurter Büro global tätig ist, die Hälfte seines Umsatzes und seiner Projekte bis heute aber in Deutschland macht, kam erst 1996 in Kontakt mit China. Der damalige Konzernchef Hermann Becker vom Frankfurter Bauunternehmen Philipp Holzmann AG gehörte dem Shanghaier Beratergremium ausländischer Investoren an. Auf Wunsch von Oberbürgermeister Xu sollte Becker über die Folgen der Verstädterung für Shanghai reden. Becker suchte Rat bei Speer und lud ihn kurzerhand ein: "Kommen Sie einfach mit mir nach Shanghai und referieren Sie über das Thema dort."
Speers Vortrag, wie die Urbanisierung den Verbrauch an Fläche pro Bürger erhöhe und die Stadt so in die Breite auswuchern lasse, hatte Folgen. Bürgermeister Xu hatte das Thema zur Chefsache gemacht, als Speer ein Jahr später in der Delegation des damaligen Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Klaus Töpfer wieder nach Shanghai kam. Die Reise mit Töpfer habe "viel bewirkt" sagt Speer heute.
Xu, inzwischen Ehrendirektor einer Wissenschaftlerkommission für Urbanisierungsfragen in Peking, propagiert den nachhaltigen Städtebau bis heute und ist einer ihrer prominentesten Anwälte. Er warnte gerade in einem Interview vor einer neuen, vom Gedanken an mehr Wirtschaftswachstum getriebenen "Stadtgründungs-Kampagne" in China. 144 Regionen planen derzeit, 200 Neubaustädte aus dem Boden zu stampfen.
Mit seinem Anliegen, Städte für Mensch und Umwelt verträglich und nachhaltig zu planen, setzte Albert Speer junior die baumeisterliche Tradition seiner Familie fort, ohne in die Fußstapfen seines Vaters treten zu müssen. "Es wurde oft geschrieben, ich hätte mich bewusst vom Vater absetzen wollen. Aber das war nicht so. Ich wusste, dass meine Stärken nicht bei der Architektur lagen." Sein Vater habe nie verstanden, worum es bei nachhaltiger Stadtplanung gegangen sei.
Später erfuhr Speer, dass der Vater dennoch stolz gewesen sei, als er in der Haft in Berlin-Spandau von den Preisen erfahren habe, mit denen der Sohn seit seinem ersten gewonnenen Wettbewerb 1964 in Ludwigshafen ausgezeichnet wurde. Stadtplanung habe den Vater dennoch nie interessiert, schon gar nicht, warum man sich mit Flächennutzungsplänen und Bürgereinsprüchen auseinandersetzen oder bei Bauämtern vorsprechen müsse, um lebenswerte Städte bauen zu können. "Das war nicht seine Welt." Aber es sei eine, auf die es heute überall ankomme. "Auch China lernt das gerade."