HINTERGRUND/Chinas "Tesla-Killer" strauchelt im Preiskampf um E-Autos
SINGAPUR (Dow Jones)--Das Elektroauto-Startup Nio galt einst als Chinas "Tesla-Killer". Diesen Namen verpassten der Firma Beobachter, als sie 2017 ein SUV, das ein elegantes Design, einen großen Bildschirm und Sprachsteuerungsfunktionen bot - und das alles zum halben Preis eines Model X. Nio, eines der am meisten gepriesenen E-Auto-Startups in China, ist jetzt ein Symbol für die Herausforderungen, denen sich viele Autohersteller in einem Verdrängungskampf auf dem weltweit größten Markt für Elektrofahrzeuge stellen müssen. Die Verkaufszahlen sind in den vergangenen Monaten spürbar gesunken, was den Autohersteller dazu veranlasst hat, die Preise zu senken und Investitionen zu kürzen. CEO William Li sagte diesen Monat, dass das an der New Yorker Börse notierte Unternehmen Nio seine Liquiditätsrisiken umsichtig steuern müsse, da die schwachen Verkäufe in den vergangenen beiden Quartalen den operativen Cashflow belastet hätten. Nio hat die Preise langsamer gesenkt als andere Autohersteller, und seine jüngsten Schritte zeigen, wie sehr der Wettbewerb die Gewinne der Autohersteller ausbremst und sich auch auf die Lieferketten auswirkt. Einige Startups rutschten auf dem überfüllten chinesischen Markt, auf dem sich das explosive Wachstum der EV-Verkäufe in diesem Jahr etwa wegen des Endes der landesweiten Subventionen für Käufer verlangsamte, bereits in eine Schieflage. Li rechnet damit, dass die Verkäufe im Juni wieder anziehen, da das Unternehmen kürzlich einen überarbeiteten SUV auf den Markt gebracht hat. Nach Unternehmensangaben wird zudem ein von der Regierung von Abu Dhabi unterstütztes Unternehmen rund 740 Millionen US-Dollar in Nio investieren.
Erste Startups machen dicht
Das verschuldete Unternehmen WM Motor hat Anfang des Jahres einen Großteil seiner Produktion eingestellt, Mitarbeiter entlassen und Geschäfte geschlossen, nachdem ihm das Geld ausgegangen war. WM Motor wird von Tencent Holdings und Hongshan, der früheren Sequoia Capital China, unterstützt. Letin Auto, bekannt für sein 4.000-Dollar-Elektroauto, meldete im Mai Konkurs an, nachdem es nicht gelungen war, neue Mittel zu erhalten. Xpeng, ein weiteres beliebtes, in den USA börsennotiertes Elektroauto-Startup in China, meldet seit September rückläufige Verkaufszahlen. Daran ändert auch nichts, dass es seit Januar Rabatte von mehr als 10 Prozent auf mehrere Fahrzeugmodelle anbietet und ein neues Modell mit fortschrittlichen Selbstfahrfähigkeiten auf den Markt gebracht hat. Xpeng hat in diesem Jahr bisher fast 40 Prozent weniger Fahrzeuge ausgeliefert als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Dem Unternehmen bleibt nicht mehr viel Zeit, um den Turnaround zu schaffen, da sein Nettobargeld knapp wird, während die Konkurrenten mit seiner Technologie gleichziehen, so Analysten von CMB International. Xpeng reagierte nicht auf Anfragen zur Stellungnahme.
Einst die Lieblinge der Investoren auf der Suche nach dem nächsten Tesla, kämpfen EV-Unternehmen weltweit mit knapperer Liquidität, operativen Problemen und verschärftem Wettbewerb. US-amerikanische Unternehmen wie Rivian Automotive und Lucid Group gehören zu denjenigen, die angesichts schrumpfender Bargeldreserven vor schwierigeren Zeiten stehen. Das Wachstum der Verkäufe von Elektro- und Hybridfahrzeugen in China ist in den vergangenen Quartalen von den dreistelligen Prozentsätzen, die 2021 und in weiten Teilen des Jahres 2022 zu verzeichnen waren, abgebröckelt. Nach Angaben der China Passenger Car Association (CPCA) kletterten die Verkäufe in den ersten fünf Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr um 41 Prozent. "Nicht jeder kann auf dem Markt überleben", meint Analyst Joel Ying bei Nomura. Startups sind anfälliger als alteingesessene Autohersteller, die in der Regel das Geschäft mit benzinbetriebenen Fahrzeugen als Cashcow haben. Peking ist dabei, ein Paket von Konjunkturmaßnahmen zu schnüren, um die schwächelnde Wirtschaft und den Konsum des Landes wieder anzukurbeln, wie das Wall Street Journal berichtete. Chinas Finanzministerium verlängerte vergangen Woche die Steuerbefreiung für den Kauf von Elektro- und Hybridfahrzeugen bis Ende 2025.
Auch Volkswagen bekommt Krise zu spüren
Der chinesische Automarkt wird immer schwieriger für ausländische Marken, die bei Elektroautos aufholen müssen. Alteingesessene Autohersteller wie Ford sind auf dem chinesischen Markt für Elektroautos gescheitert. Und Volkswagen - das bei Verbrennern dominiert und auf anderen Märkten beliebte Elektroautos verkauft - hat noch kein Modell unter den zehn meistverkauften Elektroautos. Tesla ist nach wie vor die Nummer zwei auf dem chinesischen Markt für Elektroautos und hat in den ersten fünf Monaten dieses Jahres mehr als 200.000 Fahrzeuge an einheimische Käufer verkauft. Chinas größter Elektroautohersteller BYD, der von Warren Buffett unterstützt wird, verkaufte in diesem Zeitraum rund 900.000 Autos. Darunter fallen auch Hybride, was 38 Prozent des Segments entspricht, das in China als neue Energiefahrzeuge eingestuft wird. Das Unternehmen Li Auto, das teurere Hybridfahrzeuge herstellt, lieferte im gleichen Zeitraum mehr als 100.000 Fahrzeuge aus und entwickelte sich zu einem der stärksten aufstrebenden Akteure in China. Seit Anfang des Jahres haben Dutzende von Autoherstellern in China die Preise gesenkt, während Händler Rabatte und Anreize anboten, um den Absatz anzukurbeln. Im Januar hatte Tesla seine Preise in China stark eingedampft. Diesem Schritt folgten schnell heimische Anbieter, darunter Xpeng und BYD. Letzterer senkte im März die Preise für seine Flaggschiffmodelle.
Nio, das sich gegen Preissenkungen gewehrt hatte, musste im April und Mai einen Rückgang der monatlichen Auslieferungen von mehr als 10.000 Fahrzeugen in den Vormonaten auf etwa 6.000 Stück verzeichnen. Die Probleme von Nio wurden durch eine langsame Einführung neuer Modelle verschärft, die den veralteten Bestand ersetzen sollten, der für die Käufer weniger attraktiv wurde, so die Analysten. Und die rückläufigen Verkäufe drückten auf die Rentabilität des Unternehmens, dessen Gewinnspanne aus Neuwagenverkäufen im Januar-März-Quartal auf 5 Prozent abbröckelte, verglichen mit 18 Prozent im Vorjahreszeitraum. Ende März waren die Barmittel und andere kurzfristige Liquidität von Nio gegenüber dem Vorjahr um ein Drittel auf 5 Milliarden Dollar gesunken, während die Schulden bei 2 Milliarden Dollar rangierten. Der Nio-CEO rechnet nun nicht mehr damit, vor Ende 2024 die Gewinnschwelle zu erreichen, also ein Jahr später als zuvor prognostiziert. Außerdem wurden Investitionen in Sachanlagen und einige Forschungs- sowie Entwicklungsprojekte verschoben.
Nio will mit Preiskürzungen Absatz ankurbeln
Nio senkte Anfang des Monats die Preise für alle in China erhältlichen Modelle um 4.200 Dollar und zog zugleich den kostenlosen Batteriewechsel zurück, eines der wichtigsten Verkaufsargumente des Unternehmens. Das in Shanghai ansässige Startup-Unternehmen hatte es den Käufern ermöglicht, die Autos ohne Batterien - eine der teuersten Komponenten eines Elektroautos - zu kaufen. Die Käufer konnten sich für ein kostenloses Programm anmelden, bei dem die Batterien in wenigen Minuten in seinen Einrichtungen ausgetauscht werden. Bis Februar stammten 57 Prozent des Stroms, den die Nio-Fahrer für ihre Autos verbrauchten, aus dem Austausch der Batterien, so das Unternehmen. Neue Käufer müssen nun für den Batterietauschservice bezahlen.
Nio plant, in diesem Jahr 1.000 weitere Batterietauschanlagen in China zu errichten, womit sich die Gesamtzahl auf etwa 2.400 erhöhen würde, aber das Unternehmen hat erklärt, dass es mehr Nutzer braucht, bevor der Service rentabel wird. Preissenkungen sollten den Absatz vorübergehend ankurbeln. Aber Nio muss möglicherweise seine Produkt- und Preisstrategie neu kalibrieren, so Tu Le, Geschäftsführer von Sino Auto Insights, einem auf die chinesische Automobilindustrie spezialisierten Research-Dienst. Im Mai brachte Nio einen überarbeiteten Geländewagen ES6 auf den Markt, der laut einer Studie von Morgan Stanley die Kundenbesuche in den Nio-Verkaufsräumen erhöht hat.