Liebe Börsenfreunde,
Vor zwei Wochen ist Angela Merkel gegenüber der EZB
eingeknickt. Sie sagte zu, mit der neuen Struktur des Euro-
Rettungsschirmes auch Anleihen zu garantieren, die von der EZB
kurzfristig zur Stabilisierung der Märkte aufgekauft würden.
Man sprach über Staatsanleihen Griechenlands, Irlands und
Portugals. Dieser Schritt sollte ein für allemal die „bösen
Spekulanten“ in die Defensive drängen.
Nun, wie nicht anders zu erwarten wollen die „bösen
Spekulanten“ nun wissen, ob diese Aussage auch für andere
überschuldete Euro-Länder wie beispielsweise Italien oder
Spanien gilt. Die Zinsen in Italien wurden in die Höhe
getrieben und man wartet nun auf eine Aussage von Angela
Merkel, ob sie zu ihrem Wort stehe.
Das Krisentelefonat des Wochenendes brachte vollmundige
Vertrauenserklärungen der Finanzminister, der EZB-Chefs und
aller, die meinen etwas zu sagen zu haben. Es fehlte jedoch
eine Aussage von Angela Merkel. In meinen Augen hätte sie es in
der Hand gehabt, die Märkte zu beruhigen. Doch sie tat es
nicht.
Erst gestern Abend fand ich zufällig einen Artikel über die
Reaktion unserer Kanzlerin auf den Börsencrash: Der Börsencrash
lässt die Kanzlerin kalt, heißt es da. Gut, kann sein, dass die
Kanzlerin übersehen hat, dass inzwischen das breite Volk in
Sachen Altersvorsorge auf Finanzprodukte baut, die stark im
Aktienmarkt investiert sind. Man muss als Bundeskanzlerin ja
nicht alles verstehen.
Was mich allerdings auf die Palme brachte war die angehangene
Aussage, die Kanzlerin freue sich über das Aufkaufen der
italienischen und spanischen Staatsanleihen auf dem
Sekundärmarkt durch die EZB. Die Politik ist nicht in der Lage,
das Schuldenproblem zu lösen. Da freut sich Angela Merkel dann,
dass die EZB endgültig ihr Mandat für einen stabilen Euro über
Bord wirft und ungezügelt Geld in die Märkte pumpt. Genau das,
was die Deutschen seit zwanzig Jahren verhindern wollen. Genau
das, warum die D-Mark weltweit so hoch anerkannt war und genau
das, was Prof. Issing acht Jahre lang gegen alle europäischen
Politiker durchgesetzt hat wird nun von Trichet über Bord
geworfen und unsere Kanzlerin gratuliert ihm dazu.
Ach, ich will jetzt hier nicht meine Meinung über unsere
Kanzlerin ausbreiten. Belassen wir es bei der Frage, ob wir
nicht mit einem anderen Kanzler eine etwas klarere Linie
eingeschlagen hätten. Eine Linie, die den einzelnen Länderchefs
genau vorgibt, was von ihnen erwartet wird. Aktionen statt
Reaktionen. Stattdessen höre ich seit Jahren nur die
rechtfertigenden Worte, dass Deutschland stets zeitnah und den
Umständen entsprechend reagieren würde. Weder zeitnah kann ich
erkennen. Noch sollten wir uns unsere Handlungen durch die
Umstände diktieren lassen. Nach der Finanzkrise hatte man die
Chance, weitreichende Regelveränderungen durchzusetzen. Doch
das wurde versäumt. Und so muss man heute Reagieren.
Der Ausverkauf läuft unterdessen ungebremst weiter. Zwei
Aspekte möchte ich Ihnen kurz aufzeigen: Zum einen findet in
meinen Augen eine heftige Umschichtung an den Finanzmärkten
statt: Weg von Aktien, hin zu Anleihen. Zum anderen werden die
Kurse zu einem großen Teil durch automatische Handelssysteme
bestimmt.
In den vergangenen zwei Jahren galten Staatsanleihen als
schlechte Anlageoption. Auch Ihr Autor hat vielfach daraufhin
gewiesen, dass die Verzinsung sehr schlecht und in vielen
Ländern nicht einmal die 100%ige Rückzahlung gewiss ist. So
waren neben dem Gold, was nur einen sehr kleinen Teil des
weltweiten Finanzvermögens aufgenommen hat, insbesondere Aktien
gefragt. Und ein Teil der Hausse seit 2009 ist sicherlich auch
dadurch befeuert worden, dass Kapital, das eigentlich in
Staatsanleihen geflossen wäre, in Aktien investiert wurde.
S&P hat den USA verordnet, 4 Billionen USD einzusparen. Im
Ergebnis sollen nun jedoch nur 2,5 Billionen USD eingespart
werden. Die USA haben sich nicht dem Druck der Ratingagentur
gebeugt, sie haben das Ziel einer stabilen Währung damit mit
den Füßen getreten. Doch das Schlimme daran: Was soll`s? Die
USA werden damit durchkommen und durch eine US-Notenbank, die
Fed, die schon häufig gezeigt, hat, dass sie nötigenfalls auch
US-Staatsanleihen in großen Mengen aufkaufen wird, um das
System am Laufen zu halten, können sich Anleger sicher sein,
diese Anleihen auch zurückgezahlt zu bekommen.
So sieht man sich nun plötzlich mit der Gefahr konfrontiert,
dass Sparmaßnahmen die Wirtschaft bremsen und dadurch die
Unternehmensgewinne schmälern und gleichzeitig Regierung und
Fed durch ihr Handeln zeigen, dass sie in jedem Fall das System
am laufen halten werden. Wo man gestern noch eine Staatspleite
der USA fürchtete sieht man heute, dass die Fed das niemals
zulassen wird.
Auch in England hat die stolze Bank of England inzwischen
reichlich englische Staatspapiere aufgekauft. Die Bank of Japan
handelt ebenso und interveniert zusätzlich auf den
Währungsmärkten. Bleibt die EZB als letzte Festung einer
stabilen Währung – doch auch die EZB hat dieses Dogma nun über
Bord geworfen. Eine stabile Währung, auf deren Grundlage
Unternehmen ordentlich wirtschaften können, dürfen wir auf
absehbare Zeit nicht mehr erwarten. Stattdessen ist vielleicht
wirklich eine Staatsanleihe die bessere Alternative. Zumindest
so lange, bis das Volk ihren Politikern untersagt, Verträge,
Vereinbarungen und Zusagen regelmäßig zu brechen.
Auf den zweiten Punkt bin ich bereits angesprochen worden: Wie
weiß man, dass die Verkäufe zu einem großen Titel
automatisierten Handelssystemen entstammen? Nun, ich sehe das
daran, dass alle Aktien, ungeachtet fundamentaler Unterschiede,
gleichermaßen in den Keller geprügelt werden. Wenn also der
Ölpreis von 100 auf 80 USD/Fass fällt (Texas), dann ist das gut
für die Produzenten von Benzinautos (Daimler, VW, BMW). Es ist
gut für die chemische Industrie, deren Haupteinsatzstoff
Ölprodukte sind (BASF, Bayer). Es ist gut für den Einzelhandel
und Logistikunternehmen, die viel verschiffen (Metro,
Beiersdorf, Henkel, Deutsche Post).
Man sollte also meinen, dass der Ausverkauf bei den hier
genannten Aktien weniger stark stattfindet, als bei den anderen
Titeln. Doch das ist nicht der Fall. Der Ausverkauf findet ohne
Differenzierung im gesamten DAX statt.
Die Hausse im Goldpreis sollte dazu führen, dass die
Goldminenbetreiber besser verdienen können und somit höhere
Aktienkurse verdienen. Doch schauen Sie sich mal die Kurse der
großen Goldminenbetreiber an: Barrick Gold (-21%), Goldcorp (-
17%), Newmont Mining (-17%), Goldfields (-22%) und AngloGold
Ashanti (-20%) können sich dem Ausverkauf nicht entziehen.
Diese Aktien sind Bestandteil ihrer jeweiligen Landesindizes,
die eben auch undifferenziert ausverkauft werden. Durch einen
Knopfdruck wird das Engagement im kanadischen Börsenindex
reduziert – ungeachtet wie groß das Gewicht von Barrick Gold
darin ist.
Während also das erste Argument dafür spricht, dass Aktien ein
Stückchen gefährlicher geworden sind spricht das zweite
Argument dafür, dass es in Einzeltiteln Übertreibungen gibt,
die wir für uns nutzen sollten. Nun also zur Frage: Wann?
Es ist die große Zeit der Charttechniker in diesen Tagen. Wenn
die fundamentalen Erklärungen, wie ich sie stets heranziehe,
nicht mehr ausreichen, um den Kurssturz zu erklären, kommen die
Charttechniker und sprechen von Unterstützungen, von
Chartformationen, von Fibonacci-Retracements und ähnlichem. In
diesen Tagen habe ich den Eindruck, dass es nur noch
Charttechniker gibt.
Doch die „Unterstützungen“ beim Dax, 7.000 Punkte, 6.800
Punkte, 6.150 Punkte, 5.800 Punkte, ... werden eins ums andere
ohne größere Verweildauer nach unten durchbrochen. „Hat nicht
gehalten, nächstes Ziel bei 5.100 Punkten“ kann der
Charttechniker dann schnell sagen und so schauen alle wieder
angsterfüllt auf die weiteren Kursverluste, bis doch endlich
die nächste Unterstützung erreicht wird.
„Der Markt muss dorthin gehen, wo er hingehen muss!“ sagen die
Fundamentalisten resignieren und lehnen sich abwartend zurück.
Es gibt natürlich immer wieder Hoffnung: Heute erwarten wir ein
Fed-Statement. Die US-Notenbank hat es in der Hand, in die
Rolle des Retters zu springen. Doch ist sie der Aufgabe, die
Euro-Schulden aufzufangen, gewachsen?
Merkel hat es in der Hand, endlich eine klare Linie vorzugeben.
Doch ich fürchte, wie eingangs beschrieben, dass wir so etwas
von ihr niemals bekommen werden.
Somit bleibt uns auch nach inzwischen 25% Kursverlust im DAX
nichts weiter übrig als abzuwarten. Je tiefer die Kurse fallen,
desto gravierender werden die Auswirkungen auf die Wirtschaft.
Investitionen werden zurückgehalten, vielleicht sogar gestoppt.
Das verunsicherte Volk wird den Konsum einschränken. Eine
Rezession ist zu diesem Zeitpunkt in meinen Augen kaum mehr zu
vermeiden.
Was ich immer wieder gefragt werde: Alles verkaufen, um zu
sichern, was zu sichern ist? Ich bleibe bei meinem
Schrittweisen vorgehen und werde gegebenenfalls bei einer
Zwischenrallye ohne fundamentalen Grund ein paar Positionen
verkleinern. Auf der anderen Seite werde ich dann zukaufen,
wenn ich meine Panik am Markt zu erkennen. Bislang ist der
Ausverkauf alles andere als panisch – er ist kühl, von
Handelssystemen ohne Emotionen ausgeführt. Und Handelssysteme
bilden keinen Boden.
Einen Indikator möchte ich Ihnen noch an die Hand geben, mit
dem sich ein Boden leichter erkennen lässt: Wenn die Börse
schon im Plus startet, ohne dass es einen Grund dafür gibt,
dann können Sie davon ausgehen, dass die Kurse schon bald
wieder ins Minus drehen, weil verunsicherte Anleger von den
grünen Vorzeichen schnell noch Gebrauch machen werden, ihre
Positionen zu verkleinern.
Eine Bodenbildung bedarf der Kapitulation: Es wird alles auf
den Markt geschmissen, was in Reichweite kommt. Ohne Rücksicht
auf Verluste. Das geschieht in der Regel so, dass die Kurse
dick im Minus starten, deutlich weiter ins Minus rutschen und
irgendwann, wenn keine neuen Verkaufsorders mehr kommen,
stabilisieren sich die Kurse und beginnen bei dünnen
Handelsumsätzen in die Höhe zu schnellen. Am Boden werden kaum
Umsätze erzeugt! Auf dem Weg nach unten wohl, aber am Boden ist
die Verkaufsorgie zu Ende und ein paar Käufer reichen aus, um
die Kurse deutlich nach oben zu katapultieren.
Idealerweise schließen die Börsen an einem solchen Tag dann
sogar im Plus.
Wenn also ohne besonderen Grund die Kurse morgens im Plus
eröffnen, dann können sie auf eine Kehrtwende warten. Eine
Bodenbildung hat stets mit Panik zu tun. Und Panik sieht so
aus, dass auch Sie ihre Aktienbestände verfluchen werden und
überlegen, alles zu versilbern und künftig nur noch Bargeld in
die Matratze einzunähen.
So leid es mir tut: Derzeit sehe ich noch keine Panik.
Take share,
Ihr
Börsenschreibel
Stephan Heibel