Handelsblatt Nr. 219 vom 11.11.2011 Seite 1
Nothelfer Notenbank?
Auf der Suche nach einem Ausweg aus der Euro-Krise fordern immer mehr Experten eine Führungsrolle für die EZB. Sie soll als Kreditgeber für die Rückzahlung aller Anleihen bürgen - und im Notfall Geld drucken. Der Euro wäre gerettet - und inflationiert.
M. Brackmann, D. Heilmann, J. Münchrath Düsseldorf Am 5. Oktober 2008, kurz nach dem Bankrott der US-Großbank Lehman Brothers, richteten Kanzlerin Angela Merkel und ihr damaliger Finanzminister Peer Steinbrück sich an die besorgten Deutschen: "Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Dafür steht die Bundesregierung ein." Ein Sturm auf die Banken wurde so verhindert.
Eine Wiederkehr dieser Szene wünschen sich heute viele in Europa - nur dass diesmal der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, und EU-Kommissionschef José Manuel Barroso auftreten sollen. Ihre Botschaft: "Die EZB wird alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um die Währungsunion zu schützen. Wir sagen allen Inhabern von Staatsanleihen, dass ihre Anlagen sicher sind."
In der aktuellen Krise hieße das: Die Zentralbank würde auf den Märkten so lange italienische Bonds aufkaufen, bis das Zinsniveau für Rom wieder erträglich wäre. Die Notenbank müsste dafür ihre Reserven einsetzen und auch bereit sein, die Notenpresse in Gang zu setzen.
Krisenländer wie Spanien, Italien und Griechenland, aber auch Frankreich drängen schon länger darauf, dass dieses Rettungsangebot Wirklichkeit wird. Auch in Deutschland beginnt inzwischen das große Nachdenken darüber, ob die EZB nicht als "lender of last resort", also als letztinstanzlicher Garant, fungieren sollte. "Es kann sein, dass es nicht anders gehen wird", sagten hochrangige CDU-Politiker dem Handelsblatt.
Denn das bisherige Krisenmanagement ist gescheitert. Italien, das allein 2012 über 300 Milliarden Euro alte Schulden durch neue ersetzen muss, kann die von den Finanzmarktakteuren geforderten Risikoprämien auf Dauer nicht aufbringen. Roms Refinanzierungsbedarf überfordert auch die Finanzkraft des Euro-Rettungsfonds.
Daher fordern viele Ökonomen einen Kurswechsel im Krisenmanagement. "An Italien entscheidet sich das Überleben der Währungsunion", sagte Thomas Mayer, Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Die EZB müsse ein Limit von fünf Prozent für die Renditen italienischer Staatsanleihen festsetzen und dann bereit sein, dieses Zinsniveau zu verteidigen - und zwar mit unbegrenzten Mitteln. Das allerdings hätte Konsequenzen: "Um eine Renditeobergrenze einzuziehen, müsste die EZB bereit sein, ihr Inflationsziel von zwei Prozent auszusetzen", sagt David Kohl vom Bankhaus Julius Bär.
Offiziell stemmt sich die Notenbank gegen diesen Kurswechsel: "Von uns kann nicht viel mehr erwartet werden", sagte EZB-Ratsmitglied Klaas Knot gestern. Die EZB habe bereits Staatsanleihen der Krisenländer von insgesamt 183 Milliarden Euro gekauft. Auch Draghi sagte: Es gehe an der Sache vorbei zu glauben, die Zinssätze könnten durch Intervention von außen über einen längeren Zeitraum gesenkt werden.
Doch dass die Notenbank angesichts der existenziellen Gefahr für den Euro ihrem Kurs treu bleiben kann, ist zweifelhaft. "Die Absage von Draghi, die Rolle des ,lender of last resort' zu übernehmen, wird nicht haltbar sein. Es wird zu einer Monetarisierung von Staatsschulden kommen", sagte Jens Wilhelm, Vorstand der Fondsgesellschaft Union Investment.
Die EZB kämpft nicht nur um den Euro, sondern auch um den eigenen Fortbestand. Bei einem Scheitern des Euros verliert jene Institution, deren Aufgabe darin besteht, die Gemeinschaftswährung zu hüten, ihre Daseinsberechtigung.
Angesichts der Ansteckung Italiens mit seinen 1,9 Billionen Euro Schulden wirkt der Rettungsschirm mit einem Volumen von 440 Milliarden Euro wie aus der Zeit gefallen. Um die Märkte zu beruhigen, müsse zumindest kurzfristig die EZB einspringen, fordern immer mehr Politiker, Investoren und Ökonomen. Dass Italien ohne schnelle Hilfe nicht mehr zurechtkommt, zeigte sich auch gestern. Das Land musste selbst für einjährige Schatzwechsel Zinsen von mehr als sechs Prozent bieten. Zehnjährige Staatsanleihen bringen eine Rendite von fast sieben Prozent.
"Die Hauptzutat, die fehlt, um das Vertrauen zurückzubringen, ist eine klare Stellungnahme der EZB, dass sie im Fall der Fälle jeden Euro-Staat gegen irrationale Marktpanik schützen wird", sagt Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank. Er rechnet vor, dass die EZB bisher nur für 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Euro-Zone Anleihen gekauft hat, um die Märkte zu stützen. Die US-Notenbank Fed und die Bank of England dagegen haben jeweils schon 18 Prozent des BIP aufgewendet.
Nach dieser Lesart hätte die EZB also erheblichen Spielraum, um das bestehende Programm zum Kauf von Euro-Staatsanleihen auf den Sekundärmärkten auszuweiten. Sie hat dieses Programm im Mai 2010 für Krisenländer wie Griechenland, Irland und Portugal aufgelegt und im Sommer 2011 mit Käufen spanischer und italienischer Anleihen ausgeweitet - auf jetzt insgesamt 183 Milliarden Euro.
Vor allem in Deutschland ist dieses Programm aber schon jetzt heftiger Kritik ausgesetzt. Der ehemalige Bundesbank-Chef Axel Weber hat es öffentlich verdammt und sogar auf eine Kandidatur für den EZB-Chefposten verzichtet. Auch EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark kündigte an, aus Protest gegen den derzeitigen Kurs der Notenbank Ende des Jahres zurückzutreten. Der Chef der Wirtschaftsweisen, Wolfgang Franz, lehnt es ebenfalls ab.
Die Kritiker sehen das Programm als Sündenfall, weil es Geldpolitik und Fiskalpolitik vermische und gegen den Artikel 123 der EU-Verträge verstoße, der eine Finanzierung von Staatsdefiziten durch die EZB verbietet.
Die Mehrheitsmeinung in der EZB ist allerdings eine andere: Der Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB an den Sekundärmärkten - also nicht direkt von den Staaten - sei juristisch unbedenklich. Außerdem begründet die EZB die Anleihekäufe mit der Notwendigkeit, die Übertragung ihrer Geldpolitik auf die Finanzmärkte sicherzustellen. Mit dieser Argumentation ließe sich auch eine deutliche Ausweitung der Anleihekäufe begründen.
Der Wuppertaler Wirtschaftswissenschaftler Paul Welfens schätzt, dass die EZB für 40 Milliarden Euro im Monat italienische Anleihen kaufen müsste, um die akute Krise in den Griff zu bekommen. Händler erzählten gestern bereits, dass die Notenbank ihre Käufe ausweite.
Offiziell wehren sich die Zentralbanker jedoch dagegen, die EZB zum Garanten der Euro-Staatsschulden zu machen. "Die Rolle der EZB ist es nicht, diese Staaten unbegrenzt zu finanzieren", sagte der französische Notenbankchef Christian Noyer. "Die Lösung vollzieht sich durch das Instandsetzen der öffentlichen Finanzen der Euro-Länder, nicht durch die Notenpresse der Zentralbanken."
Klaus Regling, Chef des Euro-Rettungsfonds EFSF, trat gestern der Einschätzung entgegen, nicht ausreichend für Notfälle gerüstet zu sein. Der Fonds sei bereit, Italien zu helfen, sagte Regling der "Süddeutschen Zeitung". "Italien läuft die Zeit davon, um die Märkte zu beruhigen", warnte er. "Wenn ein Land kommt und sagt, es braucht sofort Hilfe, dann sind wir bereit." Der EFSF könne derzeit 250 bis 300 Milliarden Euro Kredite vergeben.
Regling kündigte an, dass der EFSF noch im Dezember damit beginnen werde, kurzfristig laufende Anleihen auszugeben, sogenannte T-Bills. Die Schuldscheine sollen über drei, sechs oder zwölf Monate laufen. "Mit kurzfristigen Anleihen können wir viel Geld aufnehmen", sagte der EFSF-Chef. Damit lasse sich ein Liquiditätspuffer aufbauen, der genutzt werden könne, schnell in Märkte einzugreifen. "Damit wird der EFSFschlagkräftiger", sagte Regling.
Der neue EZB-Präsident Mario Draghi war vor einer Woche auf seiner ersten monatlichen Pressekonferenz Fragen zu einer Aufstockung des Anleihekaufprogramms noch ausgewichen. "Das Programm ist befristet, begrenzt und geldpolitisch begründet", sagte er nur.
"Wir diskutieren nicht über eine erweiterte Rolle der EZB", sagte gestern ein Sprecher des österreichischen Finanzministeriums in Wien. Sie würde die Geldwertstabilität gefährden. Das genau ist im stabilitätsorientierten Block um Deutschland die große Angst: Bisher haben die Staatsanleihekäufe die Inflation nicht sichtbar in die Höhe getrieben, aber bei vervielfachten Volumina bestünde die Gefahr, dass die Inflationserwartungen der Menschen stiegen und die Inflationsraten ihnen folgten.
Doch von dem Argument der Inflationsgefahr lassen sich angesichts der Dimension der Euro-Schuldenkrise immer weniger Politiker und Ökonomen überzeugen. Normalerweise sei die Inflationsbekämpfung Hauptaufgabe der EZB, aber in diesen Krisenzeiten müsse sie "lender of last resort" sein, forderte gestern Miguel Martín, Chef des spanischen Bankenverbandes AEB. "Es gibt nur eine Institution, die die sofort verfügbaren Möglichkeiten hat, um die Situation in den nächsten Tagen oder Wochen zu stabilisieren: die EZB", sagt auch Mohamed El-Erian, Chef des weltgrößten Anleiheinvestors Pimco.
Sogar in China will man die EZB mehr in die Pflicht nehmen. "Die EZB könnte durchaus noch mehr Anleihen aufkaufen, um stabilisierend auf den Markt zu wirken", sagt der renommierte Ökonom Yu Yongding von der regierungsnahen Chinese Academy of Social Sciences. Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer ist sich daher sicher: "Ich erwarte, dass die EZB in den kommenden Wochen viel mehr Staatsanleihen kaufen wird, als sich die meisten heute vorstellen können."